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An einem eisigen Aprilnachmittag steuert Franz Blum sein kleines Boot mit sicherer Hand hinaus auf das offene Wasser des Bodensees.  Der See, den sich Deutschland, Österreich und die Schweiz teilen, ist einer der größten in der EU.

Der österreichische Fischer zieht sogleich eines seiner Netze aus dem Wasser. Ein einziger Fisch hat sich darin verfangen. Es ist eine Schleie, eine heimische Fischart, die Blum eher selten ins Netz geht und von deren Fang er nicht leben kann.

Behutsam lässt er die Schleie in einem abgesperrten Teil der Bucht frei, um später zurückzukommen und sie in seinen kleinen Golfwagen zu laden, wenn er noch andere Fische zu transportieren haben wird.

„Früher, vor fünfzehn, zwanzig Jahren, habe ich einen Traktor gebraucht, um all meine gefangenen Fische zu transportieren“, sagt er. „Heutzutage reicht ein kleiner Golfwagen.“

Über Jahrhunderte schon ist der Bodensee das wirtschaftliche und natürliche Herz der ganzen Region. Normalerweise bietet er einer großen Vielfalt an Vögeln, Fischen und anderen Tierarten Zuflucht, und im Sommer tummeln sich Touristen an seinen Ufern und an beliebten Ausflugszielen wie den Badeorten und der Insel Lindau.

Doch im letzten Jahrzehnt hat sich der See drastisch verändert. Sein zerbrechliches Ökosystem ist aus dem Gleichgewicht geraten. Einige Folgen dieser Veränderungen sind bereits sichtbar; so ist die Population von Felchen, eine heimische Fischart und sogenannter Brotfisch der Fischerei in der Region, beinahe komplett zusammengebrochen.

Um Antworten auf die Fragen zu finden, warum sich der See so stark verändert und wie er und die mit ihm verbundenen Existenzen geschützt werden können, wurde das Forschungsprojekt “Seewandel” ins Leben gerufen.

Die Gefahr der invasiven Arten

 Seit sechs Jahren untersucht das Projekt Seewandel schon die biologischen Wandlungsprozesse im Bodensee. Es wird dabei vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung sowie Geldern der Bundesländer rund um den See finanziert, und basiert auf einer für die Region neuen grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen sieben Forschungseinrichtungen.

„Es gab zuvor in der Forschung bereits einige Anstrengungen, um verschiedene Aspekte des Bodensees zu untersuchen, zum Beispiel die invasiven Arten”, sagt Piet Spaak, Wissenschaftler in der Abteilung Aquatische Ökologie am Schweizer Forschungsinstitut Eawag. Er leitet Seewandel seit Projektbeginn.

„Was aber gefehlt hat, und das hat man dann Ende 2016-17 realisiert, ist ein Zusammenhang zwischen all diesen verschiedenen Aspekten. Wir haben immer mehr Effekte des Klimawandels gesehen und es gab das Bedürfnis, die verschiedenen Forschungsrichtungen zu integrieren”, erzählt er in seinem Büro in der Schweiz.

Mit Start des Projekts im Jahr 2018 teilten sich die verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen in den drei Ländern die ehrgeizige Forschungsarbeit für Seewandel in mehreren Sub-Projekten auf.

Ein Thema verlangte dabei besondere Aufmerksamkeit vonseiten der Forscher: Invasive Arten hatten verheerende Auswirkungen auf die biologische Zusammensetzung des Sees. Eine von ihnen ist die sogenannte Quaggamuschel.

„Die Quaggamuschel verursacht große Schäden”, erklärt Spaak. Das winzige Lebewesen filtert das Wasser auf der Suche nach Algen und Plankton, seinen Hauptnahrungsquellen. Obwohl dieser Prozess das Wasser klarer macht und der See dadurch für Schwimmer und Badegäste attraktiver werden kann, entsteht dabei ein tieferliegendes Problem: Die Muschel filtert das Wasser mit solcher Effizienz, dass sie anderen Arten, wie etwa Fischen, die Nahrung wegnimmt. Der Bodensee als sogenannter Alpensee hat zwar von Natur aus eine relative niedrige Nährstoffkonzentration, doch die Auswirkungen der Muschel sind so drastisch, dass sie das Überleben anderer Seebewohner bedroht.

Und dabei bleibt es nicht: Als nicht-heimische Spezies kommt die Quaggamuschel generell nur durch Menschenhand in neue Gewässer – und sobald sie einmal in einem See ist, ist es unmöglich, sie wieder loszuwerden.

Quaggamuschelproben aus verschiedenen Tiefen des Bodensees im Büro von Piet Spaak. Foto von Cristina Coellen

Die Muscheln vermehren sich noch dazu mit Lichtgeschwindigkeit. An manchen Stellen des Bodensees findet man heutzutage über 20 000 Quaggamuscheln pro Quadratmeter.

Forschungsergebnisse im Rahmen von „Seewandel“ haben gezeigt, dass die einzige mögliche Maßnahme gegen die Muscheln die Prävention bleibt. Diese bedeutet vor allem, dass Boote und Fischereigerät gründlich gesäubert werden müssen, bevor sie in ein anderes Gewässer überführt werden. Nur so kann verhindert werden, dass die Muschel daran festwächst und sich in einem neuen See ansiedelt.

Andere große Gewässer in der Nähe des Bodensees, wie etwa der Zürichsee, wurden bis jetzt von der Muschel verschont. Doch das musss nicht so bleiben.

„Das Problem ist, dass momentan nicht kontrolliert wird. Diese Maßnahmen bleiben freiwillig. Da würde ich mir natürlich wünschen, dass da mehr getan wird“, sagt Piet Spaak.

Konkrete Maßnahmen bleiben allerdings außerhalb der Reichweite der Forscher, und müssen stattdessen vonseiten der lokalen und regionalen politischen Strukturen kommen. Darunter sind etwa die Fischereikommission oder die Internationale Bodenseekonferenz (IBK).

Karlheinz Diethelm leitet die Umweltkommission der IBK. Er unterstreicht, wie wichtig es dabei sei, die Forschungsergebnisse von Projekten wie Seewandel der breiteren Öffentlichkeit zugänglich und erklärbar zu machen, um einen echten Effekt zu erzielen.

„Die Umweltkommission hat es sich letztes Jahr zu einem ihrer Ziele gemacht, den Dialog zwischen der Wissenschaft und den Fischern zu fördern“, sagt er.

Eine ungewisse Zukunft für die Felchen – und den See

Die Quaggamuschel bleibt nicht der einzige Schädling im See. Da wäre auch noch der Stichling, eine invasive Fischart, die sich von Plankton und den Larven anderer Fische ernährt. Der Nachwuchs der Felchen ist dabei eine besonders leichte Beute, nachdem sie bis zu einem bestimmten Alter wenig Fluchtreflexe haben. Das geht so weit, dass der Stichling sogar wesentlich zerstörerischer für den Felchenbestand ist als die Quaggamuschel, auch weil er laut Forschern schon sehr viel länger den Bodensee bewohnt.

Und den Schaden, den der Stichling dem Felchenbestand zufügt, bringt auch die Existenzen der Fischer in Gefahr.

„Ich bin der letzte und jüngste Fischer, der Vollzeit auf der österreichischen Seite des Sees arbeitet. Alle anderen stehen entweder kurz vor der Pension oder arbeiten noch anderswo, nachdem die Fischerei zu wenig einbringt”, sagt Blum, während er sich bemüht, sein Boot trotz der Wellen und des eisigen Windes auf Kurs zu halten.

Der Fischer Franz Blum löst einen einzigen Fisch aus seinem Netz. Foto von Cristina Coellen

Was Fischer wie Franz Blum beobachten, kann der Biologe Alexander Brinker wissenschaftlich bestätigen. Er arbeitet im Fischereiforschungsinstitut in Langenargen am deutschen Ufer des Sees, eine der Forschungseinrichtungen, die an „Seewandel“ teilhaben.

Neben dem zusammenbrechenden Felchenbestand, ausgelöst durch den Nahrungsmangel und die invasiven Arten, unterstreicht Brinker auch das Problem von Wassertemperaturänderungen – denn der See erhitzt sich gerade durch den Klimawandel.

„Für die Trüsche, einen einheimischen Fisch, ist der See zum Beispiel bereits zu warm geworden. Die Eier der Trüsche können sich nur entwickeln, wenn die Wassertemperatur im Winter unter 5 Grad Celsius bleibt”, sagt Brinker.

Die Wissenschaftler haben bereits begonnen, die Eier des Fisches außerhalb des Sees in Brutstationen wie in Langenargen schlüpfen zu lassen, um die Fischlarven dann anschließend in das Gewässer zurückzusetzen. Dies ist momentan die einzige Möglichkeit, um das Überleben der Trüsche im Bodensee zu sichern.

„Uns ist aber aufgefallen, dass die Wassertemperaturen auch ein Problem für die Felchen darstellen könnten. Wir denken, dass die Felchen im Sommer nicht genug Nahrung finden, weil das Plankton, von dem sie sich ernähren, sich in den oberen Wasserschichten aufhält. Diese könnten allerdings zu warm für die Felchen sein. Sie könnten daher hungern, obwohl Nahrung vorhanden ist“, erklärt Brinker.

Obwohl die Forscher diese Vermutung erst beweisen müssen, wissen sie, dass die Lage der Felchen schon jetzt ernst ist. Im vergangenen Januar ist ein dreijähriges Fangverbot für Felchen in Kraft getreten, teilweise informiert durch die Erkenntnisse aus “Seewandel”.

Durch diese Maßnahme wird der Felchenpopulation Zeit gegeben, sich zu erholen, so die Hoffnung der Wissenschaftler.

Nachdem die ersten Ergebnisse des Projekts auch weiter bestehende Lücken in der Forschung aufgezeigt haben, wurde es bis 2027 verlängert, um detailreichere Modelle der Klimawandelauswirkungen auf den See erstellen zu können. Die Teams unter Leitung von Piet Spaak hoffen dabei, dass ihre Modelle in Zukunft auch der Forschung an anderen Seen in Europa zugutekommen könnten. Damit wäre es möglich, drastische Änderungen in der biologischen Zusammensetzung oder der Wassertemperatur zu messen und vorrausschauend lokale politische Handlungsmaßnahmen zu informieren.

Für das Ökosystem des Bodensees und die Fischer wie Franz Blum ist die Lage währenddessen ungewiss, denn die Veränderungen des Sees sind schon jetzt folgenreich.

„Ich muss ja gar nicht die Tonnen an Fisch fangen, die ich früher gefangen habe. Ich will nur meine Arbeit weitermachen können. Aber das geht nicht, wenn es dabei nur ums Überleben geht“, sagt Blum. Er sieht ein letztes Mal auf den unruhigen See hinaus und macht sich dann auf den Weg nach Hause.